Weltrekord. Hauptdurchschlag beim Jahrhundert-Bauwerk Gotthard.
28.10.2010
Der Durchschlag des Gotthard-Basistunnels am 15. Oktober 2010 in der Oströhre ist der entscheidende Meilenstein auf dem Weg zum längsten Eisenbahntunnel der Welt. Die Schweiz bringt mit dem 2-mal 57 Kilometer langen Jahrhundertbauwerk durch die Alpen den Norden und Süden Europas auf der Schiene näher zusammen. Herrenknecht-Gripper-Tunnelbohr-maschinen haben nach Projektabschluss insgesamt mehr als 85 km der Hauptröhren gebohrt und gesichert.
2017 sollen die ersten Hochgeschwindigkeitszüge mit 200 bis 250 Stundenkilometern über oder besser durch die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) brausen. Die Fahrzeit von Zürich nach Mailand wird sich damit um eine Stunde auf 2 Stunden 40 Minuten verkürzen. Zeitgewinne rechnet sich die Schweizer Bahn besonders für den Gütertransport aus, wichtig nicht zuletzt für den Transitverkehr zwischen Deutschland und Italien. Eine neue Ära im transalpinen Schienenverkehr beginnt. Morgens von der Bahnhofstraße in Zürich zum ausgiebigen Shoppen in die ebenso noble Mailänder Galleria Vittorio Emanuele II, am Nachmittag mit ein paar Tüten feinsten italienischen Designs wieder zurück. Nur ein Traum? Im Jahr 2017 könnte diese Vision Wirklichkeit werden.
Mehr als 85 km der Hauptröhren werden mit Herrenknecht-Tunnelbohrmaschinen aufgebohrt und gesichert. Unter ohrenbetäubendem Lärm und mit brachialer Kraft bahnten sich die mehr als 400 Meter langen stählernen Hightech-Giganten aus Schwanau mit ihren etwa 9,50 Meter messenden Bohrköpfen den Weg durch das gewaltige Hartgestein, unbemerkt beispielsweise von der ahnungslosen Schar von Skifahrern, die sich runde 2.000 Meter weiter oben im Skigebiet im Bereich des Lukmanier-Passes im Schnee vergnügt. Seit sie 2003 begannen, sich durch den Fels zu fressen, haben die vier Herrenknecht-Maschinen rund 10,5 Millionen Kubikmeter Gestein durch die Mäuler ihrer Schneidräder geschaufelt. Dieses Volumen entspricht etwa dem vierfachen Volumen der Cheopspyramide. Von den "Riesenmaulwürfen", wie die Tunnelbohrmaschinen (TBM) gerne bezeichnet werden, wurden und werden rund 75 % der Hauptstrecke aufgefahren. Doch mit den sich auf 114 Kilometer addierenden Parallelröhren ist das Projekt nicht komplett.
Insgesamt sind für den Bau des Gotthard-Basistunnels 152 Kilometer Tunnel, Schächte und Stollen herzustellen. Daher unterteilten die Planer den Bau der beiden Hauptröhren und ihrer etwa 180 Querstollen in fünf Abschnitte. Weil nun die Arbeit an den fünf Teilstrecken parallel erfolgen konnte, verkürzte sich die Gesamtbauzeit erheblich. Zugleich aber waren umfangreiche logistische Vorkehrungen nötig: Zugangs- und Versorgungstunnel mussten gebaut und riesige unterirdische Hallen ausgehöhlt werden, von denen aus die Tunnelbohrer oder die Sprengarbeiten starten konnten.
Beim Auffahren von Tunneln der Gotthard-Dimension ist jederzeit mit Überraschungen zu rechnen. Nicht ohne Grund gehen Tunnelbauer ihre Arbeit mit großem Respekt an - sie handeln permanent im Spannungsfeld zwischen hochpräziser Planung und unzähligen Unwägbarkeiten. Trotz aller Vorerkundung tauchen immer wieder unvorhergesehene Schwierigkeiten auf. So wurde der Vortrieb am Gotthard auf der Südseite gleich zu Beginn - nach nur 200 Metern - im Februar 2003 durch brüchiges Gestein ausgebremst. Die beiden in Bodio gestarteten TBM - von den Bohrmannschaften liebevoll "Sissi" (Herrenknecht S-210) in der Ost- und "Heidi" (Herrenknecht S-211) in der Weströhre getauft - trafen auf geologische Störzonen, sogenannte Kakirite. Für die auf hohe Gesteinshärten ausgelegten Gripper-TBM ist derartiges Gebirge zu weich und macht gute Vortriebsleistungen nahezu unmöglich. Jeder gewonnene Tunnelmeter muss aufwendig nachgesichert werden. Erst im August 2003 konnten die Maschinen diese Störzone nach rund 400 Metern wieder verlassen.
Im Norden konnten die Baustellenteams im Juni und Oktober 2006 das Vortriebsende auf dem Abschnitt Amsteg-Sedrun mit einer spektakulären Leistung feiern. Mit sechs beziehungsweise neun Monaten Vorsprung vor dem Bauzeitprogramm sprinteten sie in Richtung Losgrenze. Das Ende war dennoch unspektakulär: Just an der Losgrenze erwartete sie eine geologische Zäsur aus kakirisiertem Gestein. Deswegen wurden die TBM vorab in noch standfestem Gebirge demontiert. Mit der Stollenbahn brachten die Arbeiter die Maschinenteile dann aus dem Tunnel.
Auf dieser Strecke kam eine weitere heikle Zone auf die Tunnelbauer zu: die Piora-Mulde, ein mit zuckerförmigem Dolomit und Wasser gefüllter Trichter, der weit in das Felsmassiv hinab reicht. Ihre Existenz war lange bekannt, und kaum eine andere Passage des Gotthards war vor dem Bau so gründlich untersucht worden. Weil niemand genau wusste, wie tief in den Berg der Trichter ragte, entschied man sich für Sondierungsbohrungen. Zudem trieb man von der Kantonalstraße einen rund 5,5 Kilometer langen horizontalen Stollen auf die Störzone zu - und bohrte sie 1996 an. Der Druck, unter dem die losen Gesteinskörner standen, war mit rund 150 Bar enorm. In dickem Strahl schoss das Wasser-Dolomit-Gemisch aus dem Berg und überschwemmte die Straße. Die Medien schrieben vom "D-Day at Piora Beach".
2009 hatten die beiden Herrenknecht-Gripper-TBM Gabi 1 und 2 nach einer umfassenden Revision auch den gut 7 Kilometer langen Nordabschnitt Erstfeld-Amsteg abgearbeitet. Hier war die Geologie beinahe ideal. So konnte im Spätsommer 2009 der Vortriebsrekord am Gotthard aufgestellt werden: In nur 24 Stunden fraß sich Gabi 2 satte 56 Meter durch den Berg, Weltrekord für eine Hartgestein-Tunnelbohrmaschine dieser Dimension. Am 16. Juni und am 16. September 2009 erreichten die Baustellenteams im Norden nach jeweils 18 Monaten Vortrieb das Ziel in Amsteg, 6 Monate früher als geplant. Der Durchschlag lieferte ein Paradebeispiel für die Präzision der Tunnelbauer und ihrer Maschinen: Beide TBM waren von der Sollachse horizontal um 4 Millimeter und vertikal um 8 Millimeter abgewichen - Millimeterarbeit im wahrsten Sinne des Wortes.
Am Freitag, 15. Oktober 2010 erfolgte der Durchschlag in der Oströhre und der "freie Blick aufs Mittelmeer" wird Realität. Für das Frühjahr 2011 ist der Durchbruch in der Weströhre geplant. Danach folgen noch wenige Jahre des Ausbaus zur funktionierenden Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke mit enormen Sicherheitsvorkehrungen, zum Beispiel zwei Notbahnhöfen, an denen die Züge im Gefahrenfall halten können. Dort ist der schnelle Übergang der Reisenden von einer Tunnelröhre zur anderen möglich - die beiden Röhren fungieren gegenseitig als Rettungstunnels - eine intelligente Lösung, auf die sich alle Beteiligten in der Schweiz nach langer Auseinandersetzung mit allen möglichen Alternativen geeinigt haben. Für die Tunnelbauer und ihre Maschinen aber geht die Arbeit zu Ende. Mit sehr befriedigenden Ergebnissen: Alle Risiken waren beherrschbar, alle Rückschläge zu überwinden, all die emotionalen Berg- und Talfahrten zu verkraften. Und trotz der kaum fassbaren Komplexität des Projekts wurden die Zeitpläne eingehalten - was an einer Stelle verlorenging, wurde an der anderen wieder gewonnen. Bundesrat Moritz Leuenberger sprach schon beim letzten Etappensieg, dem Durchschlag Erstfeld-Amsteg, vom "Sieg des Willens über die Zweifler und Nörgler". Sein Credo: "Ist der Berg noch so hoch und ist der Stein noch so hart: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Wir können es, weil wir es wollen."
Vier Herrenknecht-Gripper-Tunnelbohrmaschinen (TBM) bohren und sichern mehr als 85 km der 2-mal 57 Kilometer langen Hauptröhren des Gotthard-Basistunnels. Gripper-Tunnelbohrmaschinen sind Spezialisten für soliden Fels.
Herrenknecht-Hartgestein-Gripper-TBM „Sissi“ und „Heidi“ im Süden: | |
TBM-Durchmesser Bodio-Faido: | 8,83 m |
TBM-Durchmesser Faido-Sedrun: | 9,43 m |
Länge: | 450 m (einschließlich Nachläufer) |
Gewicht: | 2.700 Tonnen |
Bauausführende Arbeitsgemeinschaft im Süden: Arge TAT (Tunnel AlpTransit – Ticino): Implenia Industrial Construction, Alpine Bau GmbH, CSC Impresa Costruzioni SA, Hochtief AG, Impregilo SpA | |
Schichtstärke: | 17 Mann |
Arbeitszeit: | 2 x 9 h Vortrieb + 6 h Wartung |
Herrenknecht-Hartgestein-Gripper-TBM „Gabi I“ und „Gabi II“ im Norden: | |
TBM-Durchmesser Amsteg-Sedrun: | 9,58 m |
TBM-Durchmesser Erstfeld-Amsteg: | 9,58 m |
Bauausführende Arbeitsgemeinschaft im Norden: Arge AGN, Arbeitsgemeinschaft Gotthard-Basistunnel Nord: STRABAG AG Tunnelbau Schweiz (CH) / STRABAG AG (A) |
Seit mehr als drei Jahrhunderten wird das Gotthard-Massiv durchlöchert. Der Gotthard-Basistunel ist der längste Tunnel weltweit: ein Jahrhundertprojekt.
1707 | Der Tessiner Baumeister Morettini hackt und sprengt eine 64 m lange Röhre durch den Chilchberg – das sogenannte „Urnerloch“. |
1872 | Der Bau des ersten Eisenbahntunnels durch den Gotthard beginnt unter Leitung des Schweizer Ingenieurs Louis Favre. |
1880 | Am 29. Februar gelingt der Durchbruch – mit für die damalige Zeit beeindruckender Präzision. |
1882 | Der mit 15 km damals längste Eisenbahntunnel der Welt geht in Betrieb. |
1969 | Der Bau des ersten Straßentunnels durch den Gotthard beginnt. |
1980 | Der erste Straßentunnel wird für den Verkehr geöffnet und verbindet ebenfalls Göschenen mit Airolo. |
1993 | Start der Sondierbohrungen an der Piora-Mulde. |
1996 | In Sedrun beginnen die ersten Vorbereitungs- und Sondierungsarbeiten für den Gotthard-Basistunnel. |
1998 | Schweizer Bundesbeschluss zur Finanzierung der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT). |
1999 | Start der Schachtarbeiten in Sedrun mit der ersten Sprengung. |
2001 | Vergabe der ersten Maschinenaufträge an Herrenknecht. |
2003 | Start der Tunnelvortriebe mit den vier Herrenknecht-Gripper-TBM. |
2006 | Die Herrenknecht-TBM auf den Nord- und Südabschnitten des Basistunnels erreichen ihr erstes Ziel – teilweise bis zu 9 Monate vor dem Zeitplan. |
2008 | Die gefürchtete Piora-Mulde wird von der S-210 erfolgreich durchfahren. |
2009 | Erfolgreicher Abschluss der maschinellen Vortriebe im Norden. |
15. Oktober 2010 | Hauptdurchschlag des Gotthard-Basistunnels in der Oströhre zwischen Sedrun und Faido. |
2017 | Vorgesehene Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels – des Herzstücks der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale. |
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