Instandhaltung von Kanalisationen / Hrsg.: Prof. Dr.-Ing. Stein & Partner GmbH / Redaktion: D. Stein, R. Stein (2001)

Bemannt arbeitender Rohrvortrieb

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Image 5.4.3.3-1: 

Rohrvortrieb - Blick in die Startbaugrube mit Hauptpreßstation- und Stahlbetonvortriebsrohren [FI-FBS]

Etwa seit der Jahrhundertwende gibt es als Alternative zum bergmännischen Stollenvortrieb und zum Schildvortrieb mit Tübbingauskleidung den hydraulischen Rohrvortrieb (s. ATV-A 125 bzw. DVGW-W 304 [ATVA125:1996] ) [Stein85a] [Conra84b] [Hornu89] [Scher77b] [Stein85e] . Hierbei werden im vorliegenden Anwendungsfall, dem Überfahren vorhandener Leitungen, von einer Startbaugrube aus Vortriebsrohre oder Vortriebselemente mittels hydraulischer Vortriebszylinder durch das Gebirge bis in eine Zielbaugrube vorgepreßt und dabei der anstehende Boden und Altkanal im Schutze eines Schneidschuhs bzw. Schildes abgebaut und durch die vorgepreßte Rohrstrecke über Tage gefördert. Die Vortriebsrohre oder -elemente übernehmen dabei gleichzeitig die Aufgabe der Abstützung des Gebirges. In dieser Doppelfunktion - Abstützung des Ausbruchraumes gegen das Gebirge einerseits und fertiges Bauwerk andererseits - liegt der wesentliche Unterschied und der besondere Vorteil des hydraulischen Rohrvortriebes (Image 5.4.3.3-1) gegenüber den in den (Abschnitt 5.4.3.1) und (Abschnitt 5.4.3.2) erläuterten Verfahren.

Die wichtigsten Funktionsteile beim hydraulischen Rohrvortrieb sind:

  • Schneidschuh oder Schild,
  • Vortriebselement bzw. Vortriebsrohr,
  • Zwischenpreßstation,
  • Hauptpreßstation.

Von ihrem Zusammenwirken im Gesamtsystem hängt in hohem Maß der technische und wirtschaftliche Erfolg dieses Verfahrens ab. Sie sind deshalb in ihren Abmessungen, Kräften und Geschwindigkeiten aufeinander abzustimmen. In diese, dem Rohrvortrieb unmittelbar dienenden Funktionsteile sind meist die Löse-, Lade- und Transporteinrichtungen integriert.

Wesentlicher Bestandteil des steuerbaren Rohrvortriebes ist der Schneidschuh oder Schild, der jeder einzubauenden Rohrleitung voranzustellen ist. Er hat in diesem Fall neben den im (Abschnitt 5.4.3.2) beschriebenen noch folgenden Aufgaben zu erfüllen:

  • den den Altkanal umgebenden Boden (auch Gebirge genannt) so vorzuschneiden, daß die nachfolgende Rohrstrecke mit einem Mindestmaß an Setzungen bei geringstmöglicher Mantelreibung vorgepreßt werden kann,
  • den Ausbruchraum solange gegen das andrängende Gebirge abzustützen, bis die nachgepreßten Rohre endgültig alle Lasten und Kräfte aufnehmen.
Animation 5.4.3.3-1:  Einphasiger Vortrieb: Direkter Vortrieb der Produktrohre [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH]

In der Regel wird der Schneidschuh analog dem Schild beim Schildvortrieb im Tunnelbau ausgebildet. Da der Schildvortrieb mit Hilfe der Hauptpreßstation mit eventueller Unterstützung durch Zwischenpreßstationen erfolgt, entfallen hier die sonst im Schild integrierten Vortriebszylinder (Abschnitt 5.4.3.2) (Animation 5.4.3.3-1) .

Im vorliegenden Anwendungsfall kommen, wie beim Schildvortrieb mit Tübbingauskleidung, in der Regel Handschilde und mechanisch teilflächig abbauende Schilde mit einem Mindestdurchmesser von 1,2 m (Image 5.4.3.3-1) zur Anwendung. Eine Stützung der Ortsbrust und eine Grundwasserabsenkung können u. U. erforderlich sein.

Beim Vortrieb begehbarer Vortriebsrohre (Abschnitt 1.7.1) für den vorliegenden Anwendungsfall kann zwischen zwei Varianten gewählt werden [Stein88c] :

Variante 1: Einphasiger Vortrieb (Animation 5.4.3.3-2)
Bei dieser Variante wird die Produktrohrleitung, d.h. hier der Abwasserkanal, in einem Arbeitsgang, unmittelbar dem Schneidschuh folgend, vorgetrieben.

Variante 2: Vortrieb in 2 Phasen
Phase 1: Vortrieb eines Mantelrohres (entspricht einem Schutzrohr im Sinne ATV-A 161 bzw. DVGW-GW 312)
Phase 2: Einbau der Produktrohrleitung durch Einschieben oder Einziehen in den im Baugrund verbleibenden Schutzrohrstrang. Der Ringraum zwischen Produktrohr und Mantelrohr wird in der Regel verfüllt (Image 5.4.3.3-2) (Image 5.4.3.3-3) .

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Image 5.4.3.3-2: 

Verlegung von Produktrohren in zwei Phasen in Anlehnung an [Stein88c] [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH] - Phase 1

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Image 5.4.3.3-3: 

Verlegung von Produktrohren in zwei Phasen in Anlehnung an [Stein88c] [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH] - Phase 2

Die Anwendung der Variante 2 kann besonders sinnvoll bei Abwasserkanälen sein, die in Wasserschutzgebieten verlaufen bzw. diese kreuzen. In diesen Gebieten wird heute schon teilweise die Verlegung von Abwasserkanälen in einem dichten Mantelrohr (doppelwandiges Kanalsystem) gefordert, wobei der Zwischenraum frei bleibt (Abschnitt 6.1) .

Bedingt durch die spezielle Einbringungsart der Rohrleitung ist es notwendig, bei beiden Vortriebsvarianten die Aufrechterhaltung der Vorflut durch Maßnahmen außerhalb des zu erneuernden Kanals (Abschnitt 5.5) zu realisieren.

Die Anschlußkanäle sind aus Schutzgründen, aber auch zur Vorflutsicherung (Abschnitt 5.5) in der Regel vor Beginn des Rohrvortriebes in offener Bauweise von der Haltung abzutrennen. Die Wiedereinbindung erfolgt nach Beendigung des Rohrvortriebes, d.h. nach Erreichen der endgültigen Position der während des Vortriebes sich ständig bewegenden und dem Schild folgenden Rohrleitung.

Der zu erneuernde Kanal kann beim Vortrieb je nach Platzangebot und in Abhängigkeit vom eingesetzten Schildtyp entweder sofort zerstört und abgefördert oder nach Beendigung des Vortriebes komplett entfernt werden.

Obwohl der Rohrvortrieb bedingt durch seine Steuerbarkeit [Stein88c] [Stein86b] prinzipiell auch für Kurvenfahrten geeignet ist, sollte im vorliegenden Anwendungsfall die Trasse des zu erneuernden Kanals möglichst geradlinig sein.

Die Start- und Zielbaugruben sind verfahrensbedingt in der Trassenachse anzuordnen, so daß bei Lage in der Fahrbahn Verkehrsbeeinträchtigungen nicht auszuschließen sind.

Auch beim bemannt arbeitenden Rohrvortrieb gelten die Vor- und Nachteile des bergmännischen Stollenvortriebes.

Der Mechanisierungsgrad ist gegenüber allen anderen erläuterten Verfahren der unterirdischen Bauweise am höchsten und das Sicherheitsrisiko am niedrigsten.

Im Gegensatz zum Tübbingausbau des Mini-Tunnel-Systems ist hier der Fugenanteil erheblich reduziert; ein Vorteil der insbesondere bei der direkten Verwendung der vorgetriebenen Rohrleitung als Produktleitung bedeutsam ist.

Als nachteilig sind anzusehen:

  • das Abtrennen und Wiedereinbinden der Anschlußkanäle,
  • die erforderliche Anordnung der Start- und Zielbaugruben in der Kanaltrasse und die daraus resultierende Möglichkeit von Verkehrsbeeinträchtigungen,
  • die erforderliche Auslegung der Startbaugrube für die einzutragenden Vortriebskräfte.

Die Ausschreibung der Bauarbeiten kann nach dem Standardleistungsbuch LB 085 [LB085] [Schaa98] und die statische Berechnung der Vortriebsrohre nach ATV-A 161 bzw. DVGW-W 312 [ATVA161] [Körke98] erfolgen. Die Rohrvortriebsarbeiten sind unter Beachtung des ATV-A 125 bzw. DVGW-GW 304 [ATVA125:1996] und der Schutzmaßnahmen für die Arbeitssicherheit (Abschnitt 7.1) durchzuführen. Rohre für Anschlußstrecken, die in offener Bauweise verlegt werden, sind nach ATV-A 127 [ATVA127:1988] zu bemessen und nach DIN EN 1610 [DINEN1610:1997] einzubauen.

Während der Vortriebsarbeiten sind "die Vortriebskräfte der Haupt- und Zwischenpreßstationen fortlaufend aufzuzeichnen und mit den errechneten Werten zu vergleichen. Abweichungen sind zu ergründen. Über die Lage des Rohrstranges ist ein Protokoll zu führen. Dazu ist die Höhen- und Seitenlage des Schneidschuhs und des ersten Rohres mindestens alle zwei Meter bzw. mindestens nach jedem eingebauten Rohr zu kontrollieren; das Ergebnis ist in einem Diagramm darzustellen. Zusätzliche Kontrollen des Vermessungssystems sind regelmäßig in geeigneten Abständen vorzunehmen. Bei Verwendung von Schmiermitteln ist deren Druck zu messen. Bei Verdacht auf Kontaminationen ist der Auftraggeber unverzüglich zu informieren. Die Protokolle müssen das Datum enthalten sowie Angaben über die Lage der Baustelle, Boden- und Grundwasserverhältnisse aufweisen" [ATVA125:1996] .

Nach Verlegung der neuen Leitung werden die Anschlußkanäle wieder eingebunden, sofern sie nicht selbst saniert werden. Im Anschluß daran sind nach ATV-A 125 Sicht- und Wasserdichtheitsprüfungen (Abschnitt 4.5.1) durchzuführen.

Weitere Informationen sind [Stein88c] [Scher77b] [ATVA125:1996] zu entnehmen.

Instandhaltung von Kanalisationen / Hrsg.: Prof. Dr.-Ing. Stein & Partner GmbH / Redaktion: D. Stein, R. Stein (2001)