Ratten im Rohr: Grundstücksentwässerungsnetze als unerwünschter Lebensraum

24.09.2008

Ratten sind ebenso unbeliebte wie regelmäßige Bewohner städtischer Abwasser-Kanalisationsnetze. Immer wieder werden sie in umfangreichen und kostspieligen Vernichtungskampagnen bekämpft - oft mit mäßigem Erfolg. Bei der Betrachtung der Ursachen unterirdischer Rattenplagen bleibt der Fokus oft einseitig auf den öffentlichen Abwasserkanal als Lebensraum der Nager gerichtet. Dabei kommen auf einen Meter öffentlichen Kanals in Deutschland zwei bis drei Meter Hausanschluss-Kanäle und Grundstücks-Entwässerungsleitungen. Diese Systeme, meist unübersichtlich und verwinkelt und in einem oft extrem schlechten Bauzustand, sind ein ideales Rückzugs- und Nistgebiet für Ratten. Um Rattenplagen schon im Ansatz wirksam einzudämmen, muss man also auch unter privaten Grundstücken für "saubere Verhältnisse" sorgen. Vor allem gilt es, nicht mehr genutzte Leitungen zu erkennen und konsequent zu schließen.

Der ultimative Albtraum aller Toilettenbenutzer ist die Rattenattacke „von unten“. Was klingt wie eine der gern mit wohliger Gänsehaut verbreiteten „urban legends“, kann leider keineswegs als solche abgetan werden. Tatsächlich sind Ratten nahezu in allen Kanalnetzen mehr oder minder stark präsent und finden immer wieder ihren Weg in menschliche Wohnungen. Bevorzugter Anlass für solche Besuche sind einerseits Hochwasserereignisse im Kanalnetzen, die deren Bewohner zur Flucht nach oben zwingen. Zum anderen lockt der menschliche Lebensraum. Insbesondere dort, wo Lebensmittelreste durch die Toilette entsorgt werden, zieht dies Ratten unwiderstehlich an. Dass glatte, senkrechte Rohre oder wassergefüllte Siphons Ratten wirkungsvoll am Aufstieg hindern, ist leider ein Gerücht. Wo Ratten sich einmal als Besucher etabliert haben, helfen als Sofortmaßnahme letztlich nur in den Toilettenablauf installierte Rattenklappen. Während die Bekämpfung vorhandener Rattenpopulationen in der Fachwelt bereits hinreichend thematisiert wird, ist ein Blick auf bzw. in die Grundstücksentwässerung nach wie vor erkenntnisfördernd.
Während Deutschland von fast 500.000 Kilometern öffentlicher Kanäle entsorgt wird, wird die Länge der angeschlossen Grundstücksentwässerungen auf bis zu 1,5 Millionen Kilometer geschätzt, wobei diese Zahl sowohl die Anschlusskanäle im öffentlichen Raum als auch die eigentlichen privaten Leitungen auf dem Grundstück und unter dem Gebäudebestand beinhaltet. Beunruhigend ist der Zustand dieser privaten Systeme. Je nach Untersuchung werden Schadenraten zwischen 50 und 100 Prozent des Bestandes genannt. Zum Vergleich: Im öffentlichen Abwassernetzen sind "nur" ca. 20 Prozent der Kanäle defekt. Das Spektrum der Schäden in der Grundstücksentwässerung reicht von  - wegen weggefaulter Teerstrickdichtungen - undichten Rohrverbindungen bis hin zum Totalschaden durch Rohrbruch. Ein besonders wichtiges Sekundärproblem undichter Leitungen sind Kavernenbildungen rund ums Rohr, wenn austretendes Abwasser oder infiltrierendes Grundwasser die Rohr-Bettung nach und nach wegspülen. Solche Höhlen sind nicht nur schädlich für die Standsicherheit der Leitungen, sondern auch ein idealer Nistplatz für Rattenfamilien. In hydraulisch schadhaften Leitungen neigen Fäkalien und Lebensmittelreste zudem zur Ablagerung, was die Rohre zusätzlich für Ratten interessant macht. Höher gelegen als die öffentliche Kanalisationsnetze, sind Anschlussleitungen und Grundleitungen ein natürlicher Rückzugsraum für Ratten bei Hochwasser.
Grundleitungsnetze haben üblicherweise folgende Charakteristika:
  • Durchmesser zwischen 80 und 150 Millimeter, selten darüber
  • eine Vielzahl von Abzweigen und Bögen bis 90° 
  • eine häufig sehr erschwerte Zugänglichkeit von oben
Zusammen mit einem maroden Bauzustand ergeben sich daraus nicht nur schwer wiegende Wartungsprobleme, sondern diese Eigenschaften machen - in Verbindung mit der Nähe zum Menschen - Grundstücksentwässerungen aus Sicht einer Ratte zu einem nahezu optimalen Lebensraum.
Wer sich mit der Instandhaltung von Grundleitungen beschäftigt, wird regelmäßig mit einem weiteren Phänomen konfrontiert: Gerade bei alten Immobilien ist oft weder der Umfang der vorhandenen Leitungen und Schächte bekannt noch deren tatsächlicher Verlauf. Nicht selten sind Bauwerke im Lauf von Jahrzehnten so oft umstrukturiert worden, dass ein erheblicher, meist unbekannter Bestand toter Leitungen und Schächte unter Gebäuden und Grundstücken liegt. Es bringt für Inspektionen und Sanierungsmaßnahmen einen erheblichen Aufwand mit sich, solche Verhältnisse vorab zu klären.
Die für die Zustandsuntersuchung und Instandhaltung von Grundstücks-Entwässerungssystemen maßgebliche technische Norm (DIN 1986 Entwässerungssysteme für Gebäude und Grundstücke, Teil 30: Instandhaltung) fordert, dass bundesweit auf allen Grundstücken bis Ende 2015  Zustandskontrollen und Dichtheitsprüfungen der Grundstücksentwässerung durchzuführen sind. In Nordrhein-Westfalen ist ein § 61a Landeswassergesetz in Vorbereitung, der gleichfalls eine Dichtheitsprüfung bis spätestens 31.12.2015 fordert. In jedem Falle ist eine vollständige Untersuchung der Leitungssysteme einschließlich aller Seitenstränge obligatorisch. Voraussetzung solcher umfassenden, exakt zu dokumentierenden Untersuchungen ist ein aktueller Bestandsplan der Leitungssysteme.  Bis vor wenigen Jahren war die Forderung nach lückenloser Inspektion gar nicht erfüllbar, weil die gängigen, mechanisch geschobenen Kamerasysteme nicht in der Lage waren, in Seitenstränge des Systems abzubiegen. Modernere Inspektionssysteme sind inzwischen "navigierbar", d.h. sie können im Rohr gezielt abbiegen und so ganze Leitungsnetze komplett befahren und untersuchen. Die sog. "Lindauer Schere" geht als optisches Inspektionssystem noch einen wichtigen Schritt weiter: Mit einem in den Kamerakopf integrierten System horizontaler und vertikaler Bewegungssensoren kann die Kamera während der Inspektion präzise die eigenen Bewegungen dokumentieren und generiert auf dieser Grundlage quasi "nebenbei" einen Lage - und Höhenplan des untersuchten Abwassernetzes. Damit lassen sich heute ganze Leitungsbestände sicher identifizieren - auch solche, die nicht mehr in Betrieb sind.
Karteileichen gibt es auch im öffentlichen Abwassersystem: Hinter einem erheblichen Prozentsatz der in die öffentlichen Schmutz- und Mischwasser-Netze mündenden Anschlüsse liegen Rohre, die nicht mehr in Betrieb sind; in vielen der toten Leitungen wimmelt es allerdings vor Leben. Dennoch machen sich nach wie vor nicht alle Kommunen die Mühe, bei Inspektionen des Hauptkanals auch die Anschlussleitungen auf Zustand und tatsächliche Nutzung zu untersuchen.
Der bauliche Zustand der Anschlüsse lässt häufig sehr zu wünschen übrig. Vielerorts hat man diesen hoch problemträchtigen Leitungsbestand durch entsprechende Formulierung der Abwassersatzungen kurzerhand in den Verantwortungsbereich der Grundstückseigentümer abgeschoben, statt für seine Sanierung zu sorgen. Das entlastet zwar die Gemeinden personell und finanziell, löst aber keines der vielen Probleme in dieser Infrastruktur - einschließlich der Rattenplage.
Baulich marode und zusätzlich nicht mehr genutzte Hausanschluss-Leitungen und Grundleitungen sind als Lebensraum und Kinderstube für Ratten praktisch optimal. Eine wirksame Rattenbekämpfung beginnt deshalb damit, Lebensraum und Bewegungsradius der Tiere einzuschränken. Das bedeutet, nicht nur öffentliche Abwasserkanäle konsequent zu sanieren, sondern auch die Inspektion und Sanierung der privaten Elemente der Stadtentwässerung durchzusetzen. Vor allem reicht es unter dem Gesichtspunkt der Rattenbekämpfung keineswegs aus, defekte Rohre außer Betrieb zu nehmen. Sie müssen mindestens beidseitig verschlossen, besser aber komplett verfüllt werden.
Eine konsequente Kontrolle und Bestandsaufnahme der Grundstücksentwässerung, wie sie durch DIN 1986-30 in Verbindung mit § 18b WHG [1] geboten ist, dient also letztlich mehreren Zielen:
  • dem Schutz des Grundwassers vor Abwasseraustritt
  • dem Schutz der öffentlichen Kanäle und Kläranlagen vor Fremdwasser
  • dem Schutz von Anwohnern und Öffentlichkeit vor Ratten
Während über die beiden ersten Schutzziele weitgehend Konsens herrscht, blieb das Ratten-Argument in der politischen und fachlichen Diskussion bislang eher unterbelichtet.
Nachsorgende, auf Vernichtung basierende Bekämpfungsstrategien könnten jedoch durch eine präventive Strategie ersetzt oder zumindest flankiert werden. Eine beunruhigende Einsicht der Ökologie ist: Die meisten gefährdeten Arten sterben heute aus, weil Ihnen der Lebensraum beschnitten oder genommen wird. Daraus kann man (in jeder Hinsicht) lernen: Im Falle der überhand nehmenden städtischen Ratten könnte dieser ansonsten hoch problematische Zusammenhang einmal ins Positive gewendet werden, wenn man defekte bzw. überflüssige Abwassersysteme als unerwünschten Lebensraum begreift und auch so behandelt.
[1] § 18 b des Wasserhaushaltsgesetzes sieht unter anderem vor, dass Abwasseranlagen "nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik zu bauen und zu betreiben" sind: dies stellt den rechtsverbindlichen Bezug u.a. zu DIN 1986-30 her. Dieser Zusammenhang gilt bundesweit für alle Grundstücke.

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