Instandhaltung von Kanalisationen / Hrsg.: Prof. Dr.-Ing. Stein & Partner GmbH / Redaktion: D. Stein, R. Stein (2001)

Austritt von Abwasser (Exfiltration)

In Fachkreisen wurde lange Zeit die Theorie vertreten, daß eine Versickerung des Abwassers nicht stattfinden kann, da sich Undichtigkeiten (Lecks) durch feste Abwasserinhaltsstoffe selbständig abdichten oder verstopfen [Stein88g] .

Eine andere Theorie nimmt an, daß es sich beim Austreten von Abwasser aus undichten Kanälen um eine wünschenswerte und umweltschonende Komponente der Abwasserentsorgung handelt. Begründet wird dies mit dem Hinweis auf die früher übliche gezielte Versickerung eines Teiles des kommunalen Abwassers und auf die fast unbegrenzte Reinigungs- und Aufnahmekapazität des Bodens.

Unberücksichtigt bleiben bei diesen Überlegungen die in den vergangenen Jahrzehnten eingetretenen Veränderungen der Abwasserbeschaffenheit [Stein89c] [Stein90e] [Stein86d] .

Dieses Verständnis ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, daß man dem Problem der undichten Kanäle und den daraus resultierenden Kontaminationen bis heute relativ wenig Beachtung geschenkt hat, und sie ist auch mitverantwortlich für den rückschrittlichen Standard auf fast allen die Kanalisation betreffenden Gebieten.

Bisher liegen noch keine allgemeingültigen quantitativen Aussagen über Abwasserverluste infolge undichter Kanalisationen in Abhängigkeit der Randbedingungen

  • Fließtiefe bzw. Druckhöhe,
  • Hydraulik und hydraulische Ganglinie,
  • Abwasserbeschaffenheit,
  • Schadensart und Schadensausdehnung,
  • geologische und hydrogeologische Eigenschaften des Untergrundes

vor [Dohma95] .

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Bild 2.2.3.1-1: 

Möglichkeiten der Ex- und Infiltration in Kanalisationen in Abhängigkeit des Innenwasserdruckes und des Grundwasserstandes in Anlehnung an [Stein90e]. [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH]

Es hängt zunächst von der Lage der Kanäle zum Grundwasserspiegel und dem Betriebsdruck ab, ob es im Fall von Undichtigkeiten überhaupt zu einer Exfiltration von Abwasser kommt oder zu einem Eindringen von Grundwasser (Infiltration) in die Kanäle (Bild 2.2.3.1-1) .

Bei Freispiegelleitungen tritt eine Abwasserexfiltration dann ein, wenn

  • die Schadensstelle im benetzten Bereich des Kanal- oder Leitungsquerschnittes und zeitweise oder
  • ständig oberhalb des Grundwasserspiegels liegt oder
  • eine Überlastung mit einem gegenüber dem Außenwasserdruck größeren Innenwasserdruck im Kanal auftritt.

Bei Druckleitungen ist praktisch in allen Fällen mit Exfiltrationen im Schadensfall zu rechnen.

Bei Unterdruckleitungen sind Abwasserexfiltrationen i.d.R. nur im Störfall möglich.

Die Fragestellung, welche Abwasssermengen an definierten Schäden exfiltrieren und inwieweit diese in Abhängigkeit von den Untergrundverhältnissen zu umweltrelevanten Konzentrationsveränderungen führen, wurde erstmalig in [Dohma99] ausführlich behandelt.

Ziel dieser Untersuchungen war es, mit Hilfe von Exfiltationsmessungen [Dohma95] an in Betrieb befindlichen, erdverlegten, defekten Freispiegelkanälen den Exfiltrationsvolumenstrom bei typischen Kanalschäden zu quantifizieren und Aussagen zum Langzeitverhalten einer Exfiltration zu treffen.

Der Spannweitenbereich der möglichen Exfiltration von typischen Schadensbildern ist teilweise sehr groß.

Die an einer Exfiltration maßgeblich beteiligten und etwa in gleicher Häufigkeit vorzufindenen Schadensbilder der Riß- und Scherbenbildung sowie der undichten Muffen (Rohrverbindungen) weisen bei einer Scheitelfüllung des Rohres Exfiltrationsraten von rund 10 bis 130 l/(h·m) (Riß- und Scherbenbildung) bzw. von rund 30 bis 100 l/h (undichte Muffe) auf (Bild 2.2.3.1-2) .

Es zeigte sich, daß der Wasser- und Stofftransport im Bereich der Schadensstellen auch bei gleichbleibenden Bedingungen im defekten Kanal nicht konstant sind. Sehr wesentlich für die Abwasserexfiltration ist das Erreichen eines Gleichgewichtszustandes des Systems Abwasser-Schaden-Boden, der sich erst nach einigen Stunden bis Tagen einstellt. Dann haben sich eine konstante Bodenfeuchte, eine konstante Druckhöhe und weitgehend gefestigte Fließwege bzw. Poren im Boden ausgebildet, die bei unveränderten Bedingungen zu einer langsam abnehmenden Exfiltration führen.

Eine Störung dieses Gleichgewichts durch stark schwankende Abflußverhältnisse, Regenwetterereignisse oder durch eine mechanische Beeinflussung des defekten Rohres (z. B. HD-Reinigung oder Dichtheitsprüfungen mit Wasser als Prüfmedium) bewirkt bis zum Erreichen eines erneut ausgeglichenen Zustandes eine starke Erhöhung der Exfiltration [Dohma96] [Decke95] (Bild 2.2.3.1-3).

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Bild 2.2.3.1-2: 

Exfiltrationsraten in einem Mischwasserkanal aus Steinzeugrohren DN 300 mit Riß- und Scherbenbildung, verlegt in nichtbindigem Boden [Dohma95]

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Bild 2.2.3.1-3: 

Zeitlicher Verlauf der Abwasserexfiltration bei einer Rißbreite von 4 mm und einer Füllhöhe von 75 mm an einem Betonrohr DN 300 in Sandbettung [Dohma95]

 

Es ist demnach davon auszugehen, daß Kanalschäden wie undichte Rohrverbindungen, Risse und Scherbenbildung, nicht fachgerecht eingebaute Anschlußstutzen und Rohrbrüche immer zu einem Abwasseraustritt führen.

Die Abwasserexfiltration kann jedoch durch Wachstum von Biomasse und durch Sedimentation von Abwasserinhaltsstoffen im Schadensquerschnitt und im unmittelbar daran angrenzenden Boden zumindestens zeitweise vermindert oder ganz unterbunden werden [Dohma95] . Trotzdem kann es in unregelmäßigen Abständen immer wieder zum Aufbrechen der Fließwege kommen.

Bei stärkeren Schäden und einer gewissen Durchlässigkeit des Bodens können mehr oder weniger kontinuierliche Exfiltrationsvorgänge erwartet werden [Hartm96] .

Die Versuche zeigten auch, daß die Bindigkeit des Bettungsmaterials bzw. des umgebenden Bodens die Exfiltration stark beeinflußt. Ein nichtbindiges und durch Selbstdichtungseffekt des Abwassers verschlammtes Material läßt eine viel höhere Exfiltrationsrate als bei bindigem Material zu [Dohma96] .

Die Umweltrelevanz der Exfiltration für den Boden ist unmittelbar durch den direkten Kontakt mit rohem Abwasser gegeben, während die Möglichkeit einer Kontamination von Grundwasser von mehreren Randbedingungen wie beispielsweise

  • der Länge des Sickerweges,
  • der bakteriellen Besiedlung des Bodenkörpers und der damit verbundenen Eliminierung von Abwasserinhaltsstoffen,
  • der Filterwirkung des Bodens u.a.m.

abhängig ist [Dohma95] .

Eine Abschätzung der Gesamtexfiltration aus der im Gebiet der alten Bundesländer verlegten, schmutzwasserführenden Kanalisation (Mischwasserkanalisation und Schmutzwasserkanäle des Trennsystems) zeigte, daß die Exfiltrationsanteile im Falle einer günstigen Annahme von Randbedingungen rund 33 Millionen m3/Jahr (Minimalabschätzung), im Falle einer Berechnung bei ungünstiger gewählten Einflußparametern rund 440 Millionen m3/Jahr (Maximalabschätzung) betragen [Dohma95] .

Eine Abschätzung der Veränderungen des exfiltrierenden Abwassers in den Untergrund wurde in [Hagen95] vorgenommen.

Für eine Bewertung der Abwasserexfiltration wurden umfassende Untersuchungen an 7 Fallbeispielen mit unterschiedlichen Schadensarten und -klassen, in denen überwiegend häusliches Abwasser abgeleitet wurde, durchgeführt. Die Untergrundverhältnisse variierten von schwer bis gut durchlässigen Böden und unterschiedlich anstehenden Grundwasserständen unterhalb der Rohrsohle.

Anhand von Leitparametern (Tabelle 2.2.3.1-1) wurden Abwasserinhaltsstoffe in der unmittelbaren Umgebung von schweren Schäden nachgewiesen. Sie sind auf eine nur wenige cm mächtige Infiltrationsschicht beschränkt. Diese biologisch aktive Bodenschicht (bis 10 cm) mit hohem organischem Anteil übernimmt eine wichtige Ordnungsfunktion zur Stoffimmobilisierung und -elimination. Die Verfrachtung einzelner, insbesondere mobiler Stoffe in größere Tiefen ist nicht ausgeschlossen [Hagen95] .

 
Tabelle 2.2.3.1-1: 

Leitparameter bei der Untersuchung zum Stoffeintrag durch Abwasser [Hagen95]

Eluat Leitfähigkeit LF
Totaler organischer Kohlenstoff TOC ⁄ DOC
Anionen NH4
Erdalkalimetalle K
MG
Feststoff Schwermetalle Pb
Cu
Zn

Einträge der Abwasserinhaltsstoffe in das Grundwasser sind nach diesen Untersuchungen nicht zu erwarten, wenn tonige bis feinsandige Böden in einer Höhe größer 1 m unter der Rohrsohle anstehen, bei schweren Rohrschäden in der Sohle sind sie jedoch wahrscheinlich, wenn der Untergrund aus Grobsand oder Kies besteht (hohe Durchlässigkeit) und die Grundwasseroberfläche nicht mehr als 1m unter der Rohrsohle liegt.

Inwieweit sich daraus eine meßbare Beeinträchtigung ergibt, hängt von

  • den exfiltrierenden Abwassermengen,
  • dem Rückhaltevermögen der ungesättigten Zone,
  • den Grundwasserströmungsverhältnissen,
  • der Mächtigkeit des Aquifers sowie
  • den Probenahmemöglichkeiten

ab [Hagen95] .

Alle o.a. Aussagen basieren auf der Untersuchung von Einzelschäden und damit auch nur punktförmiger Verunreinigungen. Eine großflächige Bewertung unter Einbeziehung kompletter Entwässerungsnetze bzw. entsprechend großer Teilnetze mit ihren Einzugsgebieten wurde bisher noch nicht realisiert.

Einen ersten Ansatz für Deutschland stellen die Untersuchungen von Härig [Härig91] dar, der die Exfiltrationsraten für die Stadt Hannover auf theoretische Weise bestimmt hat.

In dem 204 km2 großen Stadtgebiet von Hannover wurde die Exfiltrationsrate an der 1320 km langen Schmutzwasserkanalisation durch nachfolgende Verfahren bestimmt [Härig91] :

  • Bilanzierung der im Abwasserkanal auftretenden Teilströme,
  • Erfassung des Wasseraustausches mit einem Grundwassermodell unter der Berücksichtigung gemessener Grundwasserstände,
  • Rückrechnung der exfiltrierenden Abwassermenge pro Längeneinheit aus Indikatorstoffen, deren Konzentrationen im Grundwasserleiter ermittelt werden (z.B. Sulfat und Bor).

Für die Exfiltrationsrate, die das Volumen des versickernden Abwassers pro Zeiteinheit und Kilometer Kanalstrecke angibt, wurde ein Wert zwischen 0,2 und 0,3 l/(s · km) ermittelt. Damit gelangt jährlich ein Abwasservolumen zwischen 5 und 8 Mio. m3/a in das Grundwasser. Das sind zwischen 13 und 24 % der in Hannover jährlich anfallenden Schmutzwassermenge. Gleichzeitig fließen im Untersuchungsgebiet zwischen 14 und 20 Mio. m3/a Grundwasser in die undichten Kanalisationen. Die Grundwasserstände werden durch beide Faktoren um bis zu 2 m verändert [Härig91] .

Neben dem oben erläuterten Schadstoffeintrag in Grundwasser und Boden (weitere Ausführungen siehe [Stein98c] ) können mit der Abwasserexfiltration nach [ATVM143-2:1999] noch weitere Folgeschäden verbunden sein, z. B.:

  • Schädigende Auswirkungen auf Leitungen, Bauwerke oder Straßenoberbau
  • Änderung der Bettungsbedingungen mit Folgeschäden, wie Lageabweichungen, Verformung, Risse, Rohrbruch oder Einsturz.

Instandhaltung von Kanalisationen / Hrsg.: Prof. Dr.-Ing. Stein & Partner GmbH / Redaktion: D. Stein, R. Stein (2001)