Instandhaltung von Kanalisationen / Hrsg.: Prof. Dr.-Ing. Stein & Partner GmbH / Redaktion: D. Stein, R. Stein (2001)

Alterungsfunktionen als Grundlage der Prognose

Der Alterungsprozess von Entwässerungssystemen ist ähnlich wie die Lebensdauer von Menschen von einer Vielzahl von Einflussfaktoren und Wechselwirkungen abhängig und für den konkreten Einzelfall mathematisch nicht erfassbar.

Für die Alterungsprognose wird stattdessen die beobachtete Netzalterung der Vergangenheit mathematisch abgebildet und in die Zukunft fortgeschrieben. Dazu wird das in der Demographie entwickelte Kohortenüberlebensmodell angewandt [Truji95]. Kohorten bezeichnen in diesem Fall Geburts- bzw. Baujahrgänge, die, je älter sie werden, mit abnehmender Wahrscheinlichkeit überleben.

Die Lebensdauer eines Kanals wird demnach als statistische Zufallsgröße betrachtet, der eine Wahrscheinlichkeitsverteilung zugeordnet werden kann.

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Image 5.7.1.1.1.1.2-1: 

Beispiel einer Lebensdauerverteilung und der zugehörigen Überlebensfunktion eines Kanals unter Zugrundelegung der Weibull-Verteilung [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH]

In (Image 5.7.1.1.1.1.2-1) (oben) ist eine typische Lebensdauerverteilung in Anpassung an die Weibullverteilung abgebildet. Sie beschreibt die Wahrscheinlichkeit mit der ein Baujahrgang ein bestimmtes Alter erreicht. Die Wahrscheinlichkeit mit der ein Baujahrgang ein bestimmtes Alter überlebt wird durch die Überlebensfunktion (Image 5.7.1.1.1.1.2-1) beschrieben. Diese wird aus dem Integral der Lebensdauerverteilung ermittelt.

Da Abwasserkanäle einer kontinuierlichen Zustandsverschlechterung unterliegen und somit eine auf zwei Zustände beschränkte Betrachtung (lebend/ tot) nicht ausreicht, ist eine Modifikation des Alterungsmodells erforderlich. Hierzu werden die Überlebensfunktionen analog zur Zustands- und Substanzbewertung in Klassen eingeteilt. Es ergeben sich somit jeweils Schare von sogenannten Zustands- und Substanzüberlebensfunktionen.

Die Substanzüberlebensfunktionen beschreiben, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich ein Baujahrgang in einer bestimmten Substanzklasse befindet.

Der Verlauf der Substanzüberlebensfunktionen kennzeichnet die relativen Verweilzeiten der Haltungen in den Substanzklassen und gibt infolgedessen Aufschluss über die Alterungsgeschwindigkeit der Haltungen bezogen auf die Substanz im betrachteten Netz.

Soweit für unterschiedliche Haltungsmerkmale eine für die statistische Auswertung signifikante Datenmenge vorhanden ist, können die Substanzüberlebensfunktionen differenziert für Haltungsgruppen (z.B. Kanäle aus Steinzeug oder Beton) erzeugt werden.

Im (Image 5.7.1.1.1.1.2-2) und (Image 5.7.1.1.1.1.2-3) sind beispielhaft die für das Entwässerungsnetz einer deutschen Großstadt geeichten Substanzüberlebensfunktionen dargestellt. Anhand einer Clusteranalyse wurden u. a. für folgende Haltungsgruppen spezifische Überlebenskurven generiert, die das jeweils unterschiedliche Alterungsverhalten dieser Haltungsgruppen abbilden:

  • Betonkanäle DN ≤ 700
  • Betonkanäle DN > 700
  • Steinzeugkanäle
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Image 5.7.1.1.1.1.2-2: 

Substanzüberlebensfunktionen für Betonkanäle (DN ≤700) im Entwässerungsnetz einer deutschen Großstadt [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH]

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Image 5.7.1.1.1.1.2-3: 

Substanzüberlebensfunktionen für Steinzeugkanäle im Entwässerungsnetz einer deutschen Großstadt [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH]

Die Interpretation der Kurvenschar erfolgt anhand einer Vertikalen, die von den Substanzüberlebensfunktionen geschnitten wird. Aus den Teillängen der Vertikalen ergibt sich der zeitabhängige Wahrscheinlichkeitsvektor der einzelnen Substanzklassen.

Am Beispiel im (Image 5.7.1.1.1.1.2-2) ist abzulesen, dass sich 30-jährige Betonkanäle (DN ≤ 700) im untersuchten Netz durchschnittlich mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 56,1 % in der Substanzklasse "schadensfrei" befinden, d.h. den vollen bzw. noch einen sehr hohen Abnutzungsvorrat besitzen. Die Wahrscheinlichkeit bereits einer der nächst schlechteren Substanzklassen anzugehören, ist wesentlich geringer.

Von besonderem Interesse ist die Überlebensfunktion in dem nicht mehr zulässigen Substanzbereich "endgültiger Ausfall". Diese zeigt den völligen Abbau des Abnutzungsvorrats und damit das Ende der technischen Nutzungsdauer an. Die Wahrscheinlichkeit für einen endgültigen Ausfall beträgt hier 5,9 %.

Im Vergleich hierzu sind die im vorliegenden Beispiel untersuchten Steinzeugkanäle durch eine relativ früh einsetzende Alterung gekennzeichnet (Image 5.7.1.1.1.1.2-3). So besitzen im Durchschnitt lediglich 8 % der 30-jährigen Steinzeugkanäle den vollen Abnutzungsvorrat. Hier wirkt sich möglicherweise u.a. die gegenüber Betonrohren geringere Schlagfestigkeit und die damit verbundene Rissgefahr beim Handling der Rohre bei Transport und Einbau bzw. bei der Verdichtung der Leitungszone aus. Dieser Sachverhalt wird durch den großen Schadensanteil von Rissen bei den Steinzeugkanälen bestätigt. Dennoch ist in den folgenden Substanzklassen ein gleichmäßiges Alterungsverhalten mit relativ langen Verweilzeiten festzustellen. Im Mittel besteht für die Steinzeugkanäle im betrachteten Netz erst im Alter von 68 Jahren eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 50 %.

Analog zur Berechnung von Substanzüberlebensfunktionen werden in Abhängigkeit signifikanter Haltungsmerkmale Zustandsüberlebensfunktionen ermittelt. Die mathematischen Zusammenhänge sind dabei identisch.

Die Zustandsüberlebensfunktionen beschreiben, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Baujahrgang den einzelnen Zustandsklassen angehört (Image 5.7.1.1.1.1.2-4) (Image 5.7.1.1.1.1.2-5).

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Image 5.7.1.1.1.1.2-4: 

Zustandsüberlebensfunktionen für Betonkanäle (DN ≤ 700) im Entwässerungsnetz einer deutschen Großstadt [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH]

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Image 5.7.1.1.1.1.2-5: 

Zustandsüberlebensfunktionen für Steinzeugkanäle im Entwässerungsnetz einer deutschen Großstadt [Quelle: STEIN Ingenieure GmbH]

Instandhaltung von Kanalisationen / Hrsg.: Prof. Dr.-Ing. Stein & Partner GmbH / Redaktion: D. Stein, R. Stein (2001)